„Basisgesundheitspflege“ durch eine Nichtregierungsorganisation kann der etablierten Medizin den Rang ablaufen und auch in der Katastrophenhilfe neue, nachhaltige Wege einschlagen. Dies zeigt das Beispiel Bangladesch.
Die viel beschworene Klimakatastrophe ist für BewohnerInnen des mittleren und nördlichen Europas immer noch eine eher abstrakte Erfahrung, auch wenn subjektiv erlebbare (zu) warme Winter, heftige Stürme und hektischere Jahreszeitenwechsel eine Ahnung vermitteln können, wohin die Reise gehen kann.
Eine Reise nach Bangladesch, ein Land, das schon in viel existenziellerer Weise mit dieser menschengemachten Katastrophe konfrontiert ist, führt die Dringlichkeit eines Politikwechsels eindringlich vor Augen.
Zugleich wird deutlich, dass „Disaster management“ keineswegs eine exklusive Angelegenheit von internationalen Großorganisationen wie dem Internationalen Roten Kreuz, Ärzte ohne Grenzen oder nationalen Krisenstäben mit häufig militärischem Apparat ist, sondern zivilgesellschaftliche AkteurInnen sich mit Expertise und Engagement daran beteiligen und damit auch eine wichtige kritische Kontrollfunktion in solchen Katastrophenhilfen darstellen.
Die Hilfsorganisation Gonoshasthaya Kendra (GK) in Bangladesch entstand 1972 während des blutigen Unabhängigkeitskrieges gegen Pakistan, zu dem das Land seit der Teilung des britischen Kolonialreiches in ein mehrheitlich hinduistisches Indien und ein muslimisches Pakistan 1948 gehört hatte. Das „Volksgesundheitszentrum“, so sein Name auf deutsch, organisierte die medizinische Betreuung von Flüchtlingen aus diesem Krieg mit Feldlazaretten und blieb auch nach dem Ende der Kampfhandlungen der Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der armen, vorwiegend ländlichen Bevölkerung verpflichtet. Ihr gemeindeorientierter, umfassender Gesundheitsansatz verließ sich nicht allein auf die wenigen, zumeist städtischen ausgebildeten Ärzte in Bangladesch, sondern bildete im Gegenteil junge Frauen zu „Paramedics“ – Basisgesundheitarbeiterinnen – aus. Dies war nicht nur im konservativen Bangladesch eine kleine Revolution, in einem Land, wo Frauen oft nicht ohne männlichen Begleiter das Haus verlassen durften, während sie sich jetzt mit dem Fahrrad allein auf den Weg in die Dörfer machten. Es war auch eine kleine Revolution in der etablierten Welt der Medizin, deren Standesvertreter solch einer „Entmystifizierung der Medizin“ außerordentlich skeptisch bis offen feindlich gegenüber standen.
Die Erfahrungen mit einer solchen „Basisgesundheitspflege“, die aktiv die Beteiligung der Gemeinden suchte und auch das traditionelle Gesundheitswissen nutzbar machte und mit dem modernen medizinischen Wissen ergänzte, wurde in diesem Jahrzehnt der 1970er Jahre an vielen Orten der so genannten unterentwickelten Welt gemacht. Sie flossen schließlich ein in die Konzeption der „Primary Health Care“ der Weltgesundheitsorganisation, in der die Beteiligung der Gemeinwesen an der Gestaltung und Kontrolle ihrer eigenen Gesundheitsversorgung eine zentrale Voraussetzung für das optimistische Ziel einer „Gesundheit für Alle bis zum Jahr 2000“ war. Warum dieses Ziel nicht erreicht wurde, wäre eine eigene Geschichte …
Am 15. November 2007 erreichte der Wirbelsturm Nargis die Küste Bangladeschs mit 250 km/h Windgeschwindigkeit und sechs Meter hohen Flutwellen. Zwischen 3.000 und 4.000 Menschen starben, 55.000 wurden verletzt und bis zu neun Mio. Menschen wurden geschädigt durch zerstörte Häuser und Infrastruktur, überschwemmte Felder usw. Dass es nicht mehr Tote gab, ist den umfangreichen Evakuierungen unmittelbar vor dem Desaster sowie den zahlreichen Schutzbauten zu verdanken, die in Teilen der Küstengebiete in den Jahren nach dem letzten verheerenden Zyklon 1991 errichtet wurden, dem damals über 140.000 Menschen zum Opfer fielen.
Die Fahrt vom Flughafen nahe der Hauptstadt Dhaka zum Hauptsitz von Gonoshasthaya Kendra im 30 km entfernten Savar dauert auf den überfüllten Straßen gut eineinhalb bis zwei Stunden – Bangladesch ist das am dichtesten besiedelte Land der Erde. Doch das große Gelände, auf dem das Zentrum von GK in den 35 Jahren seines Bestehens gewachsen ist, vermittelt den angenehmen Charakter einer fast beschaulichen Oase mit Teichen, großzügigen Baumalleen und einer Vielzahl von großen und kleinen Gebäuden: ein sechsstöckiges Konferenz- und Gästezentrum, eine eigene Universität für Gesundheitsberufe, ein Krankenhaus, eine eigene Produktionsstätte von Arzneimitteln. Hier wurde in den 1980er Jahren mit der Produktion unentbehrlicher günstiger Medikamente begonnen und somit die Abhängigkeit von den großen multinationalen Pharmaunternehmen maßgeblich reduziert.
Nach der Nargis-Katastrophe verwandelte sich das ganze Zentrum von GK in eine geschäftige Nothilfeorganisation. Mehrere medizinische Teams zur Notfallbehandlung wurden unmittelbar in den ersten Tagen nach dem Sturm in die Krisenregionen entsandt. Viele MedizinstudentInnen im Abschlussjahr ihrer Ausbildung bei GK und Gesundheitsarbeiterinnen aus dem Routineprogramm der Organisation bildeten Teams, die quasi rund um die Uhr die betroffene Bevölkerung bei der Überwindung der Krise und dem täglichen Überleben unterstützen. Oft genug sind sie die ersten HelferInnen vor Ort und müssen auch noch bei der Bestattung der Toten mithelfen.
Der hohe Anspruch, den GK an die Teams stellt, gilt gleichermaßen auch für die Leitungsebene. Das glaubwürdige Vorbild und die eigene Erfahrung in ähnlichen Situationen macht die Organisation überzeugend für die nächste Generation von Gesundheitsprofessionellen, die auch zu GesundheitsaktivistInnen ausgebildet werden. Doktor Kader, der Direktor des GK-Krankenhauses in Savar, und die anderen Leitungspersonen von GK motivieren bei ihren Supervisionsbesuchen nach der Nargis-Katastrophe durch ihren eigenen Einsatz die Teams.
Ein weiterer Aspekt der GK-Nothilfe über die unmittelbare Hilfe für die Betroffenen hinaus ist die Einbindung in die lokalen Koordinationsmechanismen von Behörden, Hilfsorganisationen und Militär. Letzteres spielte bei der Bewältigung dieser Krise eine ausgesprochen positive Rolle. Die Regierung Bangladeschs war zu dieser Zeit eine militärgestützte Übergangsregierung, die nach neuen Wahlen zu Beginn 2009 einer regulären zivilen Regierung Platz machte.
Die GK-Teams blieben dann noch monatelang vor Ort, da ein schneller Abzug nach der ersten Nothilfe fatale Folgen gezeitigt hätte. So wurde ein Wiederaufbauprogramm für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern entworfen, das nicht einfach nur den Status vor der Katastrophe wiederherstellen wollte. Mit Unterstützung von Gebern aus dem Ausland wurden Agrarkooperativen gegründet, in denen die Kleinbauern sich zusammenschlossen und die Felder gemeinschaftlich bearbeiteten. Ebenso förderte das Programm die Diversifizierung des Anbaus, die ebenfalls erhöhte Einkommen und eine Verbesserung der Ernährungslage für diese Subsistenzbauern bedeutete.
Die Kriterien für eine erfolgreiche Bewältigung solcher Situationen müssen umfassender die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen anvisieren – und hier kommen auch wieder der Klimawandel und die globalen Ökonomien in den Blick: Eine Existenzsicherung der lokalen Fischer wird zunehmend schwerer, da die Konkurrenz um die Fischgründe mit den großen Fangflotten zunimmt und zugleich die Sturmwarnungen an der Küste sich vervielfacht haben: Zehn bis zwölf Sturmwarnungen waren es früher. Jetzt müssen die Fischer 30 bis 40-mal pro Jahr ihre Arbeit auf See abbrechen und an Land zurückkehren. Schon jetzt wird von „Klimaflüchtlingen“ in der Hauptstadt Dhaka gesprochen – den- Armen, die sich in den ländlichen Gebieten aufgrund zunehmender Überschwemmungen und Unwetter immer weniger von ihren eigenen Erträgen auf dem Feld, in den Flüssen und der See ernähren können und in die Städte ziehen, um dort den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu sichern.
Das Rehabilitationsprogramm von GK kann da nur die lokalen Bedingungen zu bessern versuchen – für die Lösung der globalen Krisen wie des Klimawandels bedarf es der gemeinsamen Anstrengung in globalen Netzwerken. Hier engagiert sich GK als Teil des weltweiten People’s Health Movements – aber auch das wäre wieder eine andere Geschichte.
Andreas Wulf ist Arzt und Projektleiter bei medico international. Er lebt in Frankfurt/Main.